Interview mit Frau Prof.in Dr.in Birgit Dräger, Kanzlerin der Universität Leipzig
Frau Kremer: Wie haben Sie persönlich Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit erlebt?
Frau Dräger: Ich habe mich an meine Schulzeit erinnert und festgestellt, dass Bildungsgerechtigkeit eine Frage des Geschlechts ist, aber nicht nur. Ich bin in einem kleinen Dorf zur Grundschule gegangen. Das war sehr locker. Vier Klassen in einem Raum und ein Lehrer, der versuchte, das irgendwie zu konzertieren. Sehr lustig, aber nicht sehr straff. Als ich dann in die Stadt zum Gymnasium gekommen bin, habe ich eine ganz andere Welt erlebt. Mitschüler, die von ihren Grundschulen sehr viel besser auf das Gymnasium vorbereitet waren und die auch insgesamt moderner und zeitgeistgerechter ausgebildet und sozialisiert waren, wie mir schien. Ich habe mich da ziemlich am Rande gefühlt und festgestellt, dass sich einige Kinder, die auch aus ländlicher Umgebung kamen, ähnlich fühlten. Bildungsgerechtigkeit habe ich da als Manko zwischen Elternhäusern und Herkünften erlebt. Und natürlich spielte das Thema Mädchen/Jungen auch eine Rolle, aber für mich war ganz deutlich, dass Bildungsgerechtigkeit da anfängt, wo Kinder sich sozialisieren, wo es Anführer gibt. Da, wo es Trends und Moden gibt und wo manche Kinder nicht mithalten können.
K: Hat diese Erfahrung zum Erlangen Ihrer jetzigen Position beigetragen?
D: Innerhalb derer, die aus Dörfern kamen, war ich einigermaßen privilegiert. Denn obwohl meine Eltern im Dorf gewohnt haben, waren sie bildungsaffin. Sie haben mich zum Gymnasium ermuntert. Es war nicht so, dass ich mir das ausgesucht hätte. Ich fühlte mich in dieser Dorfschule pudelwohl. Meine Eltern haben mich ermuntert und auch immer wieder mit Hilfen und Durchhalteparolen bestärkt. Die Durchhalteparolen, die ich damals verinnerlicht habe, waren der Art: „Ja, du bist anders, aber sei anders.“ Das war eine enorme Ausrüstung, die ich auch jetzt noch habe. Das Wagnis, anders zu sein. Und das geht unmittelbar in Auseinandersetzungen mit Geschlechterrollen ein, denn wenn man als Frau einen Weg innerhalb der Wissenschaft geht, gerade auch der Naturwissenschaft, dann hat man wenige Vorbilder. Mein Weg war die Pharmazie, sehr stark biochemisch ausgerichtet. Dieser Impetus noch aus der Schulzeit, dass ich mein Ding mache und gucke, wie ich das möchte, war enorm stark. Ich glaube, dass es mir sehr geholfen hat, immer wieder zu definieren, wie ich es denn haben wollte und ich mich keinen Trends anschloss. Das ist der feste Wille, sich nicht schubsen zu lassen, auch nicht nach oben.
K: Warum haben Sie sich für eine Universitätslaufbahn entschieden?
D: Ich habe Pharmazie zu Ende studiert und dann eine ganze Weile als Apothekerin gearbeitet. Zunächst habe ich ein praktisches Jahr gemacht, das ist notwendig, das machen Apotheker genau wie Ärzte. Danach habe ich auch immer wieder in Apotheken gearbeitet, an verschiedenen Stellen, in Köln, in Münster und in Hamm. Ich habe festgestellt, dass mir dieses Arbeiten zwar kurzfristig Freude macht, mich aber im Endeffekt nicht erfüllt. Man arbeitet sehr abgehackt. Man hat einen Patienten, der hat ein Problem, das man lösen oder zumindest voranbringen kann, dann kommt der Nächste, dann kommt der Nächste, usw. Die Möglichkeit irgendetwas in der Tiefe zu bearbeiten, ist im Apothekenalltag nicht gegeben – ich wollte hingegen intensiv forschen. Darum habe ich mich dann entschieden, zu promovieren und das Fach zu wechseln. Ich habe zunächst Richtung Biochemie studiert und dann in der Biochemie der Pflanzen promoviert. Nach der Promotion hatte ich die Möglichkeit, als Postdoc nach Japan zu gehen und war lange Zeit dort. Dieser Japan-Aufenthalt hat mir für die Betrachtung von Geschlechtergleichstellung auch die Augen geöffnet. Nach meiner Rückkehr war ich – geprägt von den japanischen Erfahrungen – fest entschlossen, Karriere in der Wissenschaft zu machen
K: Inwiefern war die japanische Erfahrung prägend?
D: Ich war in den 90er Jahren in Japan und zu dieser Zeit waren Geschlechterrollen dort noch viel stärker zementiert als bei uns. Trotzdem konnte ich Muster wiedererkennen, die in Deutschland genauso vorhanden sind, nur subtiler. Wann Mädchen und Frauen von einer Laufbahn und vom Aufstieg abgehalten werden, war da sehr offenkundig. Ich habe zum Beispiel im Labor mit einer sehr erfolgreichen Masterstudentin gesprochen und sie gefragt, ob sie promovieren will. Sie sagte: „Auf keinen Fall. Sonst bin ich am Ende zwar promoviert, habe aber weder einen Job noch einen Mann. Für Männer bin ich dann überqualifiziert und beim Job darf ich nur Kaffee kochen.” Ihr derart kristallklarer Blick, was ihre Chancen im Falle einer Promotion anbelangte, frappierte mich. Aus dieser Verblüffung heraus habe ich dann Deutschland und Japan verglichen und mir fiel auf, dass die Unterschiede zwischen beiden Ländern gar nicht so gravierend sind, wie man zuerst vielleicht annehmen würde. Tendenziell ist in Deutschland zwar alles etwas softer, grundsätzlich sind sich Deutschland und Japan jedoch in vielen Punkten ähnlich bei der Geschlechtergleichstellung. Dazu muss man sich nur die Verhältnisse in Führungsetagen angucken oder zum Beispiel bei Professuren.
K: Also haben Sie sich für die Unilaufbahn wegen der Tiefe der Forschungsmöglichkeiten entschieden?
D: Ja, und dann in Japan auch noch mal ganz bewusst, weil ich dachte, dass es mir Freude macht und dass ich das ganz gut kann. Ich bin mit der Idee nach Deutschland zurückgekommen, es zu versuchen und habe festgestellt, dass ich nicht schlechter bin als meine Kollegen. Mit geschärftem Blick analysierte ich, wo ich benachteiligt werde, weil ich eine Frau bin oder wo ich mir vielleicht selbst im Weg stehe, weil ich eine Frau bin. Fragen, die sich mir in diesem Zusammenhang stellten, waren beispielsweise: „Wo bin ich zu zurückhaltend und hau’ nicht genug auf die Sahne?“ oder auch „Wo bin ich zu zögerlich und geh’ nicht einfach ran?“. Dieses Abgleichen war in der Zeit der Habilitation sehr intensiv.
K: Lassen sich persönliche Präferenzen bezüglich Beruf und Familie an der Universität leichter verknüpfen? Können sich Frauen hier besser behaupten als beispielsweise in der Wirtschaft?
D: Im Moment meine ich, ja. Ich habe es verpasst, eine Familie aufzubauen. Ich glaube jedoch auch, dass es zur Zeit meiner Habilitationsphase, die eigentlich eine typische Zeit für die Gründung einer Familie darstellt, im Vergleich zu heute schwieriger war, diesen Weg zu gehen. Erschwerend kam hinzu, dass Familie und Forschung in Westdeutschland und vor allem auch in einer solch konservativen Stadt wie Münster, wo ich während der Habilitation arbeitete, zusammen nicht vorgesehen waren. Es gab auch keine Unterstützungsmöglichkeiten, wie Kitas oder Randzeitbetreuung oder solche Dinge. Ich denke, das ist inzwischen besser geworden. Betrachte ich jetzt die Möglichkeiten der Universität Leipzig, dann würde ich diese als ganz gut einschätzen. Wahrscheinlich immer noch nicht ausreichend, sonst würden wir völligen Gleichzug auf der Stufe nach der Promotion zwischen Männern und Frauen haben, aber insgesamt halte ich sie für gut. Ich habe zu wenig Kontakt mit Industrieunternehmen, kann aber durch Freunde und Bekannte aus Studien- und Promotionszeiten sagen, dass sich auch der Blick in vielen Unternehmen stark wandelt. Besonders hinsichtlich Müttern und Vätern mit kleinen Kindern, denen man Chancen geben muss, im Job zu bleiben. Die Unternehmenskulturen zwischen den großen Unternehmen sind da sehr unterschiedlich, aber ich glaube, in vielen geht es in die Richtung: Wir brauchen diese Mitarbeiter, also sollten wir ihnen die Möglichkeit bieten, Beruf und Familie zu vereinbaren. Wie schnell das dann tatsächlich zum Erfolg und zum Wandel führt, das ist wirklich unternehmensabhängig.
K: Wie beurteilen Sie die Förderung von
Frauen an der Universität Leipzig?
D: Was Familienunterstützung angeht, insgesamt gut. Zur Förderung von Frauen gehört aber natürlich mehr. Dazu gehört Ermutigung, nach dem Studium mit einer Promotion fortzusetzen oder sich nach der Promotion für weiteres wissenschaftliches Arbeiten zu engagieren. Das sind aber sehr individuelle Dinge, die ich kaum beobachten, geschweige denn beeinflussen kann. Das läuft in den meisten Fällen innerhalb einer Arbeitsgruppe zwischen PromotionsbetreuerIn und DoktorandIn ab. Ich glaube, dass Mentoren-Programme eine gute Hilfe sind.
K: Was halten Sie aufgrund Ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrung vom staatlich geförderten Aufstieg von Frauen, also von der Quote?
D: Ich sage zur Quote ja, wenn gar nichts anderes hilft. Ich bin mir über die gesamten Argumente gegen die Quote durchaus im Klaren. Aber ich muss sagen, wenn eine große Firma oder ein Firmenverbund oder der öffentliche Dienst seit Jahren schwört und beteuert, er wird den Frauen bessere Aufstiegschancen bieten und sich dennoch nichts tut und die Frauenbeteiligung keineswegs steigt, dann denke ich, muss es eben die Quote sein. Für mich ist die Quote kein Fetisch, sondern einfach ein Instrument, den Druck zu erhöhen. Und Quote ist nicht gleich Quote, es gibt die verschiedensten Quoten mit den verschiedensten Zeiträumen.
K: Was würden Sie Frauen raten, die im Hochschul- oder Wissenschaftsbereich Karriere machen wollen?
D: Das sollen sie mal ruhig tun. (lacht) Was ich aber jeder Frau raten würde, ist eine radikale Ehrlichkeit zu sich selbst. Das ist nun kein Zuckerschlecken, sondern durchaus mit Härten verbunden. Es ist nicht nur eine Doppelbelastung, Familie und Hochschul- oder Forschungskarriere, auch sonst ist das nicht ganz einfach. Das ist schon ein strenges Auswahlverfahren. Jede Frau muss sich genau darüber im Klaren sein und auch ganz ehrlich zu sich selbst sein, warum sie das will und ob das ihr Ding ist. Das ist nicht der Gipfel der Welt (lacht), man kann auch woanders sehr sinnvoll und ebenso erfolgreich arbeiten. Eine Wissenschaftskarriere ist für mich gegenüber einer Karriere in der Verwaltung oder in einem Industrieunternehmen nicht herausgehoben. Man muss sich nur die besonderen Eigenheiten vor Augen halten. Das muss man mögen oder nicht.
K: Vielen Dank!