Kategorien
Interviews

»Männer müssen zunehmend in der Lage sein, auch andere Aufgaben zu übernehmen.«

Interview mit Frau Prof.in Dr.in Rose Marie Beck, Professorin für Afrikanistik an der Universität Leipzig

Wie ich Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit persönlich erlebt habe?

Ich muss sagen, dass mich dieses Thema unglaublich bewegt. Ich bin auch wütend darüber. Ich habe Bildungsungerechtigkeit wirklich auf verschiedensten Ebenen erlebt, wesentlich von meiner Herkunftsfamilie. Ich komme aus einer innerschweizer, katholischen, konservativen, politisch sehr engagierten Familie, die Mitte des 19. Jahrhunderts einen wichtigen politischen und wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat. Das bedeutet, dass meine ganzen Vorfahren, die männlichen Vorfahren, Ärzte, Richter, Juristen, Pfarrer waren. Mein Urgroßonkel war Professor für Theologie und hat die Uni Fribourg mitgegründet. Aber für die Frauen ist es immer ganz klar gewesen, dass sie eine Ausbildung machen, mit der sie dann die Familie besser pflegen können. Es gibt interessanterweise eine einzige Ausnahme: Ich habe zwei Urgroßtanten, die Oberinnen in Klöstern waren. Das waren hochgebildete Frauen, aber das ging dann nur im Rahmen des Katholischen: Wenn ich nicht heirate, kann ich nur Nonne werden und dann kann ich auch die Bildung haben, so war das verzahnt. Für mich als Mädchen war aber ganz klar, dass ich Krankenschwester werde. Und meine Mutter hat sich dann, Ende der sechsten Klasse, wenn man in der Schweiz in die weiterführende Schule geht, dafür eingesetzt, dass ich aufs Gymnasium durfte. Und nicht nur bei meinem Vater, sondern auch beim Familienoberhaupt, der ist Pfarrer, der Probst von Luzern, gewesen. Es war dann vollkommen in Ordnung, dass ich auf dem Gymnasium war und es war auch klar, dass ich studieren würde. Aber es ist trotzdem immer der Punkt gewesen, dass ich heiraten und Kinder kriegen muss und das war das, was gezählt hat. Ich hatte mal eine Professurvertretung, das war zum Geburtstag meiner Mutter, als sie 65 oder 70 geworden ist. Da hat mein Vater mich und meine fünf Geschwister vorgestellt. Fünf von uns sind promoviert, zwei sind Professoren. Bildung ist in unserer Familie nichts Fremdes. Wir sind drei Mädchen und drei Jungs. Wir Mädchen durften also auch einen solchen Weg gehen, ich bin die Zweitälteste nach dem ersten Jungen und habe sozusagen den Weg auch für die Mädchen eröffnet. Aber zu dieser Gelegenheit des Geburtstages hat mein Vater alle vorgestellt, ich hatte eine Vertretungsprofessur und er sagte: „Ja, sie unterrichtet ein bisschen an der Uni Hamburg.“ Ich war vollkommen entsetzt. Und vor ein paar Jahren hat er noch gesagt: „Ich bedauere, dass ich es nicht durchgesetzt habe, dass ihr Krankenschwestern geworden seid. Diese Belastung von Familie und Beruf finde ich ganz schwierig.“ Das ist eine Art von elterlicher Fürsorge, da kann ich noch nicht einmal groß was dagegen sagen. Mein Vater macht sich Gedanken über meine Arbeitsbelastung und sagt dann aber: „Wärs doch besser gewesen, wärste Krankenschwester geworden, hättste Kinder gekriegt und wärst glücklich geworden.“ Das empfinde ich noch nicht einmal als Ungerechtigkeit, sondern das ist einfach ganz klar: Mein Vater wird jetzt 88. Aber es gibt auch einen Onkel von mir, den kann ich nicht riechen. Der fragt jedes Mal, wenn ich ihn sehe (und den sieht man eben zweimal im Jahr bei dieser Großfamilie): „Was machst du noch mal?“ Und dann sage ich: „Ich bin Professorin an der Universität Leipzig.“ „Achso, schön.“ Und dann ist das Thema erledigt. Und dann beim nächsten Mal fragt er wieder: „Was machst du noch mal?“ (lacht) Aus dieser persönlichen Erfahrung kommt für mich eine ganz starke Motivation, weil ich ständig von dieser Bedeutungslosigkeit als Frau bedroht bin. Und das legt man sehr schwer ab. Das ist so ein biografischer Hintergrund, der ist vielleicht nicht die ganze Zeit prominent, aber er klebt immer wieder. Wenn ich mich damit beschäftige, dann merke ich, dass es eine fundamentale Bedeutungslosigkeit als Frau gibt, gegen die ich immer wieder ganz persönlich habe kämpfen müssen. Ich glaube, dass wir natürlich eine Bedrohung für Männer sind, weil wir Anspruch auf ihre Ressource „Bedeutung“ erheben. Und die wollen sie mit uns natürlich nicht unbedingt teilen, weil das dann wiederum ihre Ressourcen einschränkt. Das ist die Bedrohung. Darum ist meine grundsätzliche Meinung, dass wir eine Emanzipation für Männer brauchen. Ich glaube, wir Frauen sind an einem Punkt angekommen, wo es für uns nicht mehr weitergeht, sofern die Männer nicht nachziehen. Ich habe in Köln studiert und dort meinen Mann kennengelernt. Er ist auch an der Uni, er ist Professor für afrikanische Sprachen. Meine ältere Tochter ist ein sogenanntes „Ups-Kind“ und dann habe ich meinem Mann gleich gesagt: „Also entweder machen wir das fifty-fifty oder ich weiß, warum ich es alleine mache.“ Das war die Wahl und er hat sofort alle Viere von sich gestreckt und gesagt: „Wir machen es fifty-fifty.“ Am Anfang haben wir wirklich bis auf eine halbe Stunde runter einen Zeitplan gehabt, wer wann für das Kind zuständig ist. Das war wichtig für mich, eine klare Struktur. Nicht dass sich das dann einschleicht, ich mache dann doch die Wäsche und dann geh ich noch einkaufen und dann koche ich und dann noch das und dann noch das. Das ist auch kein böser Wille, aber es schleift sich sonst ein. Mein Mann ist zwölf Jahre älter als ich, ich habe meinen Magister gemacht und er war am habilitieren und in der Zeit haben wir auch dieses Kind gebastelt. Er ist natürlich in seiner Karriere an einem ganz anderen Punkt gewesen und da kommt oft diese Altersdifferenz ins Spiel, bei der die Männer einfach die Nase vorn haben und mehr beruflich unterwegs sind, mehr eingebunden sind. Natürlich stellt sich dann die Frage: Warum sollte ich als Frau nicht einfach diese zusätzliche Arbeit übernehmen? Das ist ein schleichender Prozess, den ich einfach versucht habe, radikal zu verhindern und das ist mir auch gelungen. Heute haben wir immer noch eine grundsätzliche Aufteilung, ohne explizite Absprachen funktioniert es nicht.

Bildungsungerechtigkeiten an der Uni

Der dritte Bereich, in dem ich Bildungsungerechtigkeiten in diesem Geschlechterkonflikt erlebt habe, das ist natürlich an der Uni. Dort werden Frauen einfach weniger ernst genommen, vor allem dann, wenn sie weiterkommen. Ich hatte solche Angst, mit meinem Kind aus der Uni rauszufliegen, dass ich zwei Wochen nach der Geburt wieder Unterricht gemacht habe. Das war schon die Härte, wenn ich zurückdenke. Das andere ist, dass ich mit meinem Mann im gleichen Feld bin. Es gibt etwa zwölf Professuren für afrikanische Sprachen in ganz Deutschland und wir besetzen zusammen zwei davon. Ich habe mal versucht, im gleichen Institut wie er zu arbeiten. Ich wollte eine kleine Vertretung für ein halbes Jahr bekommen und das hat nicht geklappt, weil man mir gesagt hat, ich würde den sozialen Frieden gefährden. Das gehört für mich zu den bitteren Erfahrungen. Auf der anderen Seite kann es sein, dass wir als machtvolles Paar wahrgenommen werden, wo Informationen fließen, die nicht fließen sollten, oder dass man gegen andere klüngeln kann. Das andere ist die gläserne Decke. Da muss ich wirklich sagen, ich habe das nur deswegen geschafft, weil ich mir selbst einen anderen Forschungsschwerpunkt gewählt habe als mein Mann. Mein Mann ist Spezialist für westafrikanische Sprachen und für deren linguistische Beschreibung, und ich bin Spezialistin für ostafrikanische Sprachen, für Swahili, für populäre Kultur, für Diskursivität, für das Digitale, für alles, was man mit Sprache macht. Und so haben wir unterschiedliche Expertisen, dass wir uns nicht in die Quere kommen. Sonst glaube ich, hätte das auch niemals geklappt. Mein Mann ist viel älter als ich, der wird jetzt in zwei Jahren pensioniert. Und oft befürchtet man, dass wenn man den einen Kollegen beruft, auch den anderen beruft und das will man nicht. Diese de facto Doppelberufung ist Teil der gläsernen Decke. Ich hab wirklich richtig brutal gekämpft, um da zu sein, wo ich jetzt bin und ich habe alles riskiert. Es ist gut ausgegangen, ich habe meine Familie nicht verloren, meine Kinder sind anständig rausgekommen. Und ich bin eigentlich wirklich froh, dass ich das hier erzählen kann. Ich möchte, dass es gehört wird. Ich möchte auch, dass nachfolgende Generationen von Frauen das vielleicht nicht so müssen.

Gründe für eine Entscheidung
pro Unikarriere

Ich habe mich gar nicht so richtig für die Uni entschieden. Ich habe mich schon früh im Studium auseinandergesetzt mit Theorien, Methoden, Zugängen. Und ich glaube, dieses Intellektuelle hat mich an einer Karriere an der Uni immer interessiert, die intellektuelle Auseinandersetzung. Deswegen bin ich auch dabeigeblieben. Ich habe mal in der Unternehmensberatung gearbeitet, das ist wirklich flach und dünnbrettbohrig, das habe ich nicht ausgehalten. Es war interessant, sozusagen als ethnografisches Feld, das man sich anguckt. Aber das Intellektuelle ist der Kern. An der Uni habe ich, wenn ich einen guten Chef oder eine gute Chefin habe, die Freiheit zu kommen und zu gehen, wann ich will. Nur die Arbeit muss fertig sein. Es gibt Zeiten, wo man weniger arbeitet, das hat jeder Wissenschaftler aus verschiedensten Gründen, und genau diese Schwankungen in der Arbeitsintensität machen es möglich, dass man als Frau auch besser die Arbeit mit der Familie verbinden kann. Mein Sohn ist 15 und meine Tochter 22. Das ist nicht mehr klein, aber vor sieben Jahren, als ich die Möglichkeit hatte, für ein Jahr nach New York zu gehen, war das nicht zu machen. Es ging einfach nicht. Das sind dann innerfamiliäre Dynamiken und im Rückblick sehe ich, dass ich [bei der internationalen Vernetzung] habe Abstriche machen müssen. Aber ich beklage mich nicht, ich habe eine tolle Stelle. Und jetzt sind die Kinder groß und ich habe noch 16, 17 Jahre Beruf vor mir und kann machen, was ich will. Das ist ein großer Luxus.

Karrierestrategien für Frauen im Hochschul- oder Wissenschaftsbereich

Ich glaube, man muss die Fähigkeit haben, zwischen privatem und beruflichem Kontext flexibel hin- und hergehen zu können, sodass mal das eine Vorrang hat, mal das andere. Und gleichzeitig muss man sich im Klaren sein, dass man auch eine Stabilität braucht. Man muss auch in der Lage sein, sein Kind früh in den Kindergarten zu geben. Beide meiner Kinder sind mit sechs Monaten in die Krippe gegangen und ich habe damit gute Erfahrungen gemacht. Man muss auch in der Lage sein, die Förderungen anzunehmen, die das berufliche oder das wissenschaftliche Umfeld bieten. Ich habe immer Schwierigkeiten gehabt, solche Förderungen anzunehmen oder auch zu sehen, weil ich so damit beschäftigt war, zu kämpfen. Wenn ich zurückblicke, dann merke ich, dass ich immer nur gesehen habe, welche Steine mir in den Weg gelegt worden sind. Und ich habe jetzt eine Mentee hier an der Uni Leipzig, wo ich das ähnlich erlebe, sodass ich denke, ich bin nicht die Einzige. Ich finde, Frauen müssen sich darüber im Klaren sein, dass man zum Beispiel auch mit dem Thema Karriere umgehen muss. Es ist absolut harte Konkurrenz, auf jeder Ebene. Man muss reflektieren, man muss zäh sein, man muss auch Kampfgeist haben. Vor allem muss man Selbstzweifel aushalten können. Es braucht diese Reflexivität, um mit den ganzen Schwierigkeiten, die man hat, umzugehen. Frauen sind, glaube ich, einfach noch stärker mit Selbstzweifeln belastet, die wachsen einem über den Kopf. Manchmal denke ich, dass die Männer das vielleicht auch denken, aber sie sagen es einfach nicht. Und da hilft Mentoring, weil da Sachen in einer Distanz problematisiert werden können. […] Ich muss sagen, ich führe für mich selbst ein erfülltes Leben, auch weil ich Kinder habe. Muss ich wirklich sagen. Und ich bin wirklich gerne Professorin, mir macht das Spaß. Jede einzelne Aufgabe, und ich beklage mich nicht über Administration, auch das gehört dazu. Das zeigt mir, wie die Uni funktioniert und wo ich stehe. Und ich mag den Unterricht, vor allem, wenn die Studierenden mitmachen, wenn sie dann dasitzen und sagen: „Hab ich gar nicht so gedacht!“ Dann ist für mich das Semester erfolgreich. Gerade jetzt am Dienstag hat mir eine Studentin gesagt: „Seit ich diesen Text gelesen habe, beobachte ich ganz anders.“ Und dann habe ich gedacht: „Okay, das war mein Semester!“

Rose Marie Beck an ihrem Arbeitsplatz im Geisteswissenschaftlichen Zentrum

Was halten Sie aufgrund Ihrer persönlichen beruflichen Erfahrung vom staatlich geförderten Aufstieg von Frauen?

Ich bin da ein bisschen ambivalent. Ich sehe natürlich, dass der Staat Instrumente einsetzen kann, um Beschäftigungspolitik, z.B. Bildungspolitik, zu beeinflussen. Aber ich finde es schwierig, wenn es um Quoten geht. Ich nehme jetzt das Beispiel von Berufungspolitik, da finde ich, kann man nicht mit Quote argumentieren, sondern es muss vorher anfangen. Es muss damit anfangen, dass die Kollegen wahrnehmen, was eigentlich eine wissenschaftliche Leistung ist. Wenn man nur guckt, 500 Publikationen und da ist eine Frau, die hat nur 200 geschafft, weil sie noch Kinder hat und weil sie noch Lehre gemacht hat und die Ellbogen eben nicht so ausgefahren hat wie die anderen Männer und nicht so zielstrebig auf die Karriere zugegangen ist, dann kann ihr das nicht zum Nachteil gereichen. Was ist die Leistung, die wir heute für die Universität brauchen? Und da gehört Wissenschaft rein, aber es gehört auch Innovationsfreudigkeit dazu. Frauen trauen sich da zum Beispiel noch zu wenig. Ich erlebe oft, dass jeder einzelne Satz, den Frauen irgendwo hinschreiben, siebenfach belegt sein muss. Ich kenne Kollegen, die schreiben einen guten Gedanken hin und tun so, als wäre das selbstverständlich. Also, die Förderung muss weiter unten anfangen und die Quote kommt zu spät. Und das andere ist, dass ich wirklich glaube, dass es einen Emanzipationsschub für Männer braucht. Und das kann keine Emanzipation sein, die auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird, wie die aktuellen Genderdebatten über die Universität, die unglaublich aggressiv geführt werden. Es gibt richtige Schmutzkampagnen gegen Gender-Professorinnen, gegen den ganzen Genderbereich. Das kann es nicht sein. Also da rufe ich wirklich die Männer auf und sage: „Emanzipiert euch mal! Wir haben ganz viel geschafft, jetzt seid ihr dran.“ Ich finde zum Beispiel, wir müssen noch viel mehr Frauen in professoralen Positionen haben, wir sind bei unter 20 Prozent in Deutschland. Die Uni Leipzig ist übrigens bei 24 Prozent in den letzten Jahren, das ist auch ein Verdienst der Rektorin, natürlich nicht allein, aber sie hat das auch intensiv vorangetrieben.