Interview mit Frau Prof.in Dr.in Katarina Stengler,
Professorin für Psychiatrie und Psychotherapie im Universitätsklinikum Leipzig
Frau Kremer: Wie haben Sie Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit persönlich erlebt?
Frau Stengler: Ich kann mich gar nicht unbedingt erinnern, dass ich Ungerechtigkeit empfunden habe. Nun muss man dazu sagen, dass ich ja im Osten Deutschlands groß geworden bin. Zur Wende hatte ich gerade angefangen, in Leipzig zu studieren. Ich habe insofern frühe Bildung in einem sehr strukturierten, sehr gesteuerten und wenig individuellen, aber durchaus „gleichgeschalteten“ Bildungssystem erlebt und so sind meine frühen Erfahrungen mit Bildungsgerechtigkeit eigentlich sehr an diesen kulturellen und staatlichen Kontext gebunden. Bezüglich des Studiums und der persönlichen Karrierebildung und -entwicklung und der Bildungsausgestaltung habe ich auf den ersten Blick schon das Gefühl, dass ich da sehr meiner individuellen Vorstellung, meinen Wünschen und Bedürfnissen folgen konnte. Ich hatte auch sehr früh eine Idee, was ich machen möchte: z.B. Medizin zu studieren und Medizin auch mit Wissenschaft und mit Lehre zu verbinden. Also, diesen reinen Versorgungskontext hatte ich nicht, sondern habe mir immer von Anfang an gedacht, dass ich auch forschen möchte. Ich habe Pläne gemacht und mich sehr stark daran orientiert, ob ich zum Beispiel frühzeitig eine Promotion anfangen konnte. Ich hatte auch frühzeitig eine persönliche Entwicklung, da ich im Studium schwanger geworden bin und dann beides miteinander verbinden musste. Mir würde also bei der Frage nach Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit im Moment nicht einfallen, ungerecht behandelt worden zu sein.
K: Wie hat diese Erfahrung zum Erlangen Ihrer jetzigen Position beigetragen?
S: Ich habe vieles so gewollt und an manchen Stellen mit wenigen Abstrichen auch durchgesetzt. Das ist mein persönlicher Weg. Allerdings muss ich schon sagen, dass das in höheren Positionen schwieriger ist. Ich habe eine APL-Professur in der Psychiatrie und eine Leitungsposition bei
uns an der Klinik und bin parallel Gleichstellungsbeauftragte am Klinikum und an der Medizinischen Fakultät, beschäftige mich da also auch mit Un-Gerechtigkeiten, mit Chancengleichheit für Frauen und Männer. Je höher und weiter ich in meiner Entwicklung gekommen bin, je mehr Verantwortung dann auf dem Spiel stand, umso mehr ist das Thema Chancen(un)gerechtigkeit in mein Blickfeld geraten. Umso mehr habe ich auch entdeckt, wie schwierig es ist, wenn man dann wirklich in eine Entscheidungssituation kommt, wo es darum geht: du oder ich, er oder sie, sie oder sie. Erst in diesem Zusammenhang wurde mir bewusst, dass das Geschlecht keine unwesentliche Rolle spielt.
K: Hätte das Thema Bildungsgerechtigkeit auf eine Karriere außerhalb der Universität Einfluss gehabt?
S: Das ist eine schwierige Frage. Ich würde erst mal sagen: Vielleicht. Grundsätzlich glaube ich, Bildungsgerechtigkeit und -ungerechtigkeit und Karriereeinfluss sind keineswegs Themen, die nur in der Wissenschaft oder an der Universität eine Rolle spielen. Ich denke, das findet genauso in allen anderen Bereichen statt. Sicherlich gibt es in verschiedenen Berufsfeldern ebenso Bereiche, in denen Frauen und Männer
chancen(un)gerecht behandelt werden – und auch dort denke ich, wird es insbesondere wichtig, auf diese Erfahrungen zu achten, je verantwortungsvoller Positionen und Leitungsfunktionen etwa werden. Nach wie vor wissen wir, dass Frauen in diesem Feld – in Führungs- und Spitzenpositionen noch deutlich unterrepräsentiert sind. Ich bin nicht ganz sicher, ob sich durch die großpolitische Lage etwa in der Wirtschaft in den letzten Jahren, auch gerade in großen Unternehmen, die die Durchsetzung dieses Themas schneller auf die Agenda gesetzt haben, wirklich relevant etwas geändert hat.
K: Warum haben Sie sich für eine Universitätslaufbahn entschieden? Haben Sie auch außeruniversitäre Arbeitserfahrungen gemacht?
S: Nein. Im Bereich Gesundheitswesen habe ich zwar vor und während des Studiums in Krankenhäusern gearbeitet, die nicht universitär waren und wo es nur um die Versorgung ging. Allerdings fußen meine Erfahrungen ausschließlich auf den Bereich Medizin. Für die Entscheidung einer universitären Karriere war es auch wichtig, dass ich mit jungen Leuten zu tun habe, also die studentische Lehre war für mich von vorn herein ein sehr interessantes Feld. Zudem die Wissenschaft: neues herauszufinden, bei neuen wissenschaftlichen Projekten dabei zu sein – das schien mir immer erstrebenswert. Meine persönlichen Dinge habe ich auf diesem Weg quasi immer „mitgenommen“.
K: Persönliche Dinge wie eine Familie?
S: Ja, damit meine ich meinen Mann und auch seine Ideen von Karriere, meine Kinder. Meine Tochter wurde im Studium geboren – ist jetzt 24, selbst am Ende des Medizinstudiums. Die Zeit mit ihr in einem Studium musste gut strukturiert werden, Promotion lief parallel daneben. Genau 13 Jahre später, am Ende meiner Habilitation, wurde mein Sohn, jetzt 9 Jahre, geboren – unser Nachzügler. Ich bin sehr glücklich über meine Kinder, meine Familie, die Unterstützung durch meinen Mann, meine Eltern – ohne dieses System wäre vieles nicht so gut gelaufen. Aber auch: es war kein gradliniger Weg – in jeder Phase musste und wollte ich Privates mit Beruflichem verbinden – das hat Kraft gekostet und natürlich habe ich mich nicht immer 100% auf die berufliche Karriere konzentrieren können – im Nachhinein: gut so!
K: Lassen sich persönliche Präferenzen bezüglich Beruf und Familie an der Universität leichter als bspw. in der Wirtschaft verknüpfen?
S: Das kann ich schlecht einschätzen, weil ich die andere Seite nicht kenne. Die Uni hat eine grundsätzliche Offenheit gegenüber unterschiedlichen Modellen von der Verknüpfung von Arbeit und Wissenschaft – und in der Medizin eben auch Versorgung und Lehre. Themen wie: Lehrstunden, Anwesenheit, Präsenzzeiten, wie kann ich ein Homeoffice gestalten. Ich nehme in dem Kontext, den ich überblicke, eine größere Offenheit in den letzten Jahren wahr. Das kann ich für die Wirtschaft nicht so sagen, auch wenn ich glaube, dass der größere Freiheitsgrad für Frauen schon in Leitungspositionen liegt, wenn sie denn diese Leitungspositionen eingenommen haben. Zum Beispiel wenn mir Frauen in leitenden Position sagen, dass sie ihr Kind in ihre Abteilungsleitung mitnehmen können und ihre Sekretärin darauf aufpasst. Oder z.B.
entsprechende Teilzeitmodelle auch für weibliche Führungskräfte angeboten werden.
K: Wie beurteilen Sie die Förderung von
Frauen an der Uni Leipzig?
S: Es gibt jetzt seit jüngster Zeit das Professorinnen-Programm, bei dem Professorinnen durch von der Universität eingeworbene Fördermittel und unterschiedliche Instrumente direkt gefördert werden. Das ist ein weiter Bereich, in dem Frauen auf dieser Qualifikationsstufe Unterstützung bekommen. Es gibt an unterschiedlichen Fakultäten in unterschiedlichen Bereichen auch Instrumente, wo Studentinnen in der frühen Phase gefördert werden. Ich glaube, es wird sich bemüht, Frauen an unterschiedlichen Stellen ihrer persönlichen Karriere zu unterstützen und einige Dinge sind auch schon etabliert. Das ist eine sehr positive Tendenz.
K: Könnte das an der weiblichen Führung
der Universität Leipzig liegen?
S: Ich denke, dass unsere Rektorin mit dieser Position als Erstrektorin an der Universität Leipzig und auch mit all dem, wie sie sich als Frau in der Öffentlichkeit positioniert, natürlich als weibliche Führungspersönlichkeit gehört wird. Ich glaube aber tatsächlich auch, dass wir ohne fördernde Männer, die uns Frauen unterstützen, nicht auskommen. Es wäre zu kurz gedacht zu sagen, dass wenn eine Frau in der Führungsposition ist, es allen Frauen sofort besser geht oder sie es leichter haben. Das muss man sehr differenziert sehen – und einen systemischen Wandel zu mehr Chancengerechtigkeit für alle in diesem Bereich anstreben.
K: Was halten Sie aufgrund ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrung vom staatlich geförderten Aufstieg von Frauen?
S: Da geht es auch wieder um die Frauenquote. Ich war lange Zeit hin- und hergerissen. Ich kenne auch persönlich diese Position: man bzw. „FRAU“ muss es so schaffen und wenn man nur gut genug ist, dann schafft man das auch. Ich glaube mittlerweile, dass das ein Hirngespinst ist. Ich denke, staatlich geförderte Aufstiegsentwicklungen und Karrieremodelle für Frauen sind notwendig, damit es einfach anteilmäßig überhaupt mehr Frauen gibt. Wie und ob und wann die für andere Frauen nützlich sind, ist eine zweite Sache. Wir brauchen eine Chancengerechtigkeit. Frauen müssen mehr Möglichkeiten haben und zwar auf allen Ebenen, nicht nur, damit sie in Führungspositionen kommen, sondern damit sie zum Beispiel auch Unterstützungsmodelle in der Familie besser tragen können.
K: Was würden Sie Frauen raten, die im Hochschul- oder Wissenschaftsbereich Karriere machen möchten?
S: Aus meinen eigenen Erfahrungen mit Karriereseminaren und -workshops mit Studentinnen am Beginn des Medizinstudiums kann ich sagen, dass eine ganz wichtige Botschaft an Frauen ist: Grundsätzlich sollten ihre Ideen frei entfaltbar sein. Was will ich machen? Wo will ich inhaltlich hin? Welche Vision habe ich? Was könnte ich mir beruflich vorstellen? Eigentlich kann ich die Frage besser mit „was ich Frauen nicht raten würde“ beantworten. Was ich ihnen nicht rate, sind solche Ideen wie: Naja, das hängt ja auch davon ab, ob ich dann einen Partner habe und wie viele ich Kinder habe und ob ich das machen möchte und dann kann ich danach meine berufliche Entwicklung ausrichten. Das ist zwar leider eine Realität, die viele Frauen erfahren müssen, aber ich finde das eigentlich falsch. Ich finde es gut, dass Frauen sich offenhalten Pläne und Visionen zu haben, die sie umsetzen möchten. Und dann im zweiten Schritt, oder auch parallel schauen, welche Hilfssysteme ihnen dabei wichtig sind. Da ist ein Hilfssystem sicher die staatlichen Förderinstrumente, das zweite Hilfssystem sind Menschen in Leitungspositionen, das können Frauen und Männer sein wie jetzige oder zukünftige Chefs oder Chefinnen, die an der und der Stelle unterstützen können. Aber die dritte wichtige Position ist eben auch: Wie unterstützen mich die, die mir privat ganz nah sind? Das kann die Schwester sein, das können die Eltern sein und es muss, denke ich, auch der Partner oder die Partnerin sein. Es gibt diesen Spruch: „Die Männer in den beruflichen Entwicklungen legen uns Steine in den Weg“. Dem ist an vielen Stellen so, aber ich glaube, der Mann oder die Frau zu Hause ist im Prinzip immer mit im Boot. Und diese antizipierte Rücksichtnahme, dieses „Ich muss Rücksicht nehmen“, ist Frauen näher als Männern. Nichts ist schlimmer, als wenn Frauen schon im Vorfeld sagen: Das mache nicht, weil ich meine berufliche Entwicklung von vornherein nach meinen privaten Wünschen abstellen muss. Umgekehrt! Ich denke, sie müssen mutig sein und erst mal sagen: Okay, das kann ich mir vorstellen.
K: Vielen Dank.