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»Strategie ist das eine, aber Leidenschaft für eine Sache ist noch viel wichtiger.«

Interview mit Frau Prof.in Dr.in Monika Wohlrab-Sahr, Professorin für Kultursoziologie an der Universität Leipzig

Frau Kremer: Wie haben Sie Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit persönlich erlebt?

Frau Wohlrab-Sahr: Ich habe Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit nicht in einer Mädchen-Jungen- bzw. Männer Frauen-Dimension erlebt, sondern aus einer Klassenperspektive. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, meine Mutter war ungelernte Arbeiterin, mein Vater zunächst Facharbeiter und später als angelernter Arbeiter beschäftigt. Das heißt, ich hatte zwei Eltern, die sich als Hilfsarbeiter bezeichneten. Das war ein großes Thema bei uns zu Hause. Ich bin die Erste in unserer Familie, die Abitur gemacht hat. Aus der Perspektive meines Vaters war ein Abitur für mich gar nicht vorgesehen. Ich ging aufs Gymnasium, aber es hieß immer, dass wir uns ein Studium sowieso nicht leisten können. Also, warum sollte das Mädchen Abitur machen, sie sollte lieber „aufs Amt“ gehen. Aufs Amt gehen, also einen White-Collar Job haben, war aus der Arbeiterperspektive ein Aufstieg. Nun hatte ich aber eine hartnäckige Mutter, die nur eine ganz schlechte und lückenhafte Schulbildung während des Krieges hatte, und darunter immer gelitten hat. Sie hat gesagt: „Meine Tochter hat gute Noten, jetzt macht sie erst einmal das Abi und dann sehen wir weiter.“ Dann ist in diese Zeit die Bildungspolitik von Willy Brandt, die Bildungsexpansion und die Einführung von BAföG gefallen, und das war mein großes Glück. Wenn es das nicht gegeben hätte, hätte ich auch nicht studiert. So machte ich dann Abitur und habe angefangen zu studieren. Ich bin in der Schule auf den mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig gegangen, weil meine Eltern dachten, dass das sinnvoll wäre. Es war eine Schule, in der das sozialdemokratische Gedankengut präsent war. Das heißt, es war besonders anerkennenswert, wenn ich gute Noten hatte, weil man mir – so die Wahrnehmung von außen – zu Hause nicht helfen konnte. Jedenfalls haben Mitschülerinnen, deren Eltern Lehrer waren, mir das so zurückgespiegelt. Mit großem Glück bin ich also in ein Klima gekommen, das für einen Aufstieg aus so einem Arbeiterhintergrund förderlich war. Ich habe meinen Hintergrund schon an manchen Stellen gemerkt, zum Beispiel an der Sprache. Bestimmte Wörter, die ich von zu Hause kannte, sagten andere nicht. Zum Beispiel, dass wir anstatt Hähnchen „Gickerl“ gesagt haben. Aber ich habe keine Diskriminierung erlebt. Meine Eltern waren aber Mitglieder in einem gewerkschaftlichen Buchclub, insofern gab es zu Hause Bücher und einen Bücherschrank, was auch nicht selbstverständlich war für einen Arbeiterhaushalt. Das ist meine unmittelbare biografische Erfahrung mit Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit. Dann habe ich zunächst angefangen, Theologie zu studieren und habe später noch parallel Soziologie studiert. Das waren Studiengänge, die es im Studium nicht schwierig für Studentinnen gemacht haben, anders als etwa die Philosophie oder die naturwissenschaftlichen Fächer. Als eine meiner Freundinnen anfing, Chemie zu studieren, hat der Laborleiter gleich gesagt: „Was wollt ihr eigentlich hier? Ihr bleibt doch eh irgendwann zu Hause und kriegt Kinder!“ Das habe ich in meinen Fächern nicht erlebt. Ich habe also keine direkte Diskriminierung als Frau in meinen Studiengängen erlebt. Ich bin sehr gefördert worden. Ich habe Theologie und Soziologie abgeschlossen und hatte zunächst vor, Pfarrerin zu werden, bin dann aber in ein Projekt in der Soziologie geraten. Darüber hat sich dann die Möglichkeit zur Promotion ergeben und es ist eine wissenschaftliche Laufbahn gewachsen, ohne dass ich mich dafür von vornherein entschieden hätte. Ich bin nicht mit der Vorstellung angetreten, dass ich Professorin werde. Es wäre vor meinem Hintergrund auch gar nicht denkbar gewesen, so eine Vorstellung zu entwickeln. Erst als ich mich auf eine C1-Stelle als wissenschaftliche Assistentin beworben habe, habe ich gedacht, wenn ich jetzt habilitiere, muss ich auch Professorin werden wollen. Das ist, glaube ich, schon anders für die Leute, die einen akademischen Hintergrund in ihrem Elternhaus haben.


K: Was haben Ihre Eltern gedacht, als sie dann promoviert waren? Waren Sie stolz?


WS: Nun, mein Vater hat das gar nicht mehr erlebt. Er ist gestorben, ehe ich das zweite Studium abgeschlossen hatte. Meine Mutter war sicher stolz. Aber natürlich war die Universität, in der ich mich bewegt habe, für sie auch die fremdeste Welt, die man sich nur denken kann. So ein Aufstieg ist immer verbunden mit dem sich Herausbewegen aus einem Milieu und auch ein Stück damit, sprachunfähig zu werden im Hinblick auf dieses Milieu. Man schreibt in einer Sprache, die die Eltern überhaupt nicht verstehen. Ich habe meiner Mutter meine Dissertation gewidmet und sie ihr geschenkt. Sie sagte, dass sie sie auch lesen wird, und in dem Moment
war mir das schon peinlich, weil ich gedacht habe: „Um Himmels Willen, jetzt denkt sie, ich bin vom Mond!“ Es ist immer ambivalent. Einerseits war das Motto, dass die Kinder es besser haben sollen. Das kennt man aus der Geschichte, und das wurde bei uns zu Hause immer gesagt. Andererseits entsteht dann natürlich in dem Moment, in dem die Kinder sich aus dem, was man kennt, herausbewegen, eine Entfremdung. Man hat mit Leuten zu tun, redet in einer Sprache und beschäftigt sich mit Themen, die kaum noch anschlussfähig sind.


K: Lassen sich Ihrer Erfahrung nach Beruf und Familie an der Universität leicht verknüpfen?


WS: Also, ich habe selbst keine Kinder und das hat viele Gründe, aber es hat sicherlich auch damit zu tun, dass für mich die Vorstellung, ein Kind zu haben, immer auch mit der Angst verknüpft war, die Dinge, die ich an der Uni machen will, dann nicht machen zu können. Und dann wurde es immer aufgeschoben. Jetzt erst die Promotion, jetzt erst ins Ausland, jetzt erst die Habilitation … und irgendwann hatte sich das biografisch erledigt. Insofern kann man sagen, ich habe es nicht gut verknüpfen können. Nun ist der Vorteil, dass ich diesen Job sehr liebe. Aber es hat natürlich auch eine Schattenseite. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich meine erste Projektstelle an der Uni hatte, aus der heraus ich dann
später auch promoviert habe. Der Projektleiter, mein Doktorvater, hat damals zu einem Kollegen gesagt: „Das Schlimmste, was uns jetzt passieren kann, ist, dass unsere Mitarbeiterinnen schwanger werden.“ Und da habe ich sehr aufmerksam zugehört. Nicht, dass das damals mein Thema gewesen wäre, aber ich habe das natürlich als Botschaft mitgenommen. Gleichzeitig war das aber ein Mann, der mich während meiner Promotionszeit und auch danach unglaublich gefördert hat und ohne den ich nie diesen Weg gegangen wäre. Niemals. Wenn ich den nicht gehabt hätte … Insofern bin ich ihm sehr dankbar. Das war auch keine „Gender“-Förderung, das war einfach ein ganz persönliches Mentoring. Zwei Drittel von dem, was ich konnte, habe ich von ihm gelernt. Und er hat mich auf Konferenzen mitgenommen, er hat mich Leuten vorgestellt. Er hat mir auch geholfen, diese Ängste zu überwinden, die man hat, wenn man auf Konferenzen geht und niemanden kennt. Wo
ich mich anfangs sehr fremd gefühlt habe. Ich konnte also Beruf und Familie nicht gut verbinden. Natürlich ist das Privatleben noch viel mehr als die Frage, ob man Kinder bekommt oder nicht. Aber es ist eben auch ein wichtiger Teil. Und ich glaube, dass es heute besser geht, jedenfalls in
den Fächern, mit denen ich es zu tun habe.

Monika Wohlrab-Sahr in der Lounge der Kollegforschergruppe „multiple secularities”


K: Wie beurteilen Sie die Förderung von Frauen an der Uni Leipzig?


WS: Ich glaube, dass die Uni Leipzig auf einem guten Weg ist. Man kann immer noch mehr machen, zum Beispiel was Kinderbetreuung angeht. Auch bei anderen Versuchen, wie Vereinbarkeit zu gewährleisten oder Mentoring-Programmen, ist viel in den letzten Jahren passiert. Oder beim Versuch, atmosphärisch etwas zu verändern, also Bildungsungerechtigkeit zum Thema zu machen. Ich denke, dass es eine wichtige Rolle spielt, dass wir eine Rektorin haben. Es ist ein Riesenunterschied im Vergleich zum Rektorat davor. Das ist sehr positiv, nicht nur die Frau an sich, sondern dass sie sich das Thema auch zu eigen macht.


K: Was halten Sie vom staatlich geförderten Aufstieg von Frauen, also von der Quote?


WS: Das ist ein schwieriges Thema. Richtig harte Quoten in dem Sinne, dass ein bestimmter Anteil an Stellen zwingend mit Frauen besetzt werden muss, gibt es kaum. Das fände ich auch schwierig, weil dann das Qualifikationsargument unterlaufen würde und das geht, glaube ich, in unseren Bereichen schlecht, weil es die Person sofort diskreditieren würde. Das ist einer der heikelsten Punkte, dass die Einstellung von Frauen mithilfe der Quote sofort die Person diskreditiert. Die Unterstellung läuft mit, dass sie nicht wegen ihrer Leistungen da ist, sondern weil sie eine Frau ist. Auf der anderen Seite finde ich schon, dass diese Quotendiskussion und auch bestimmte Zielvorgaben, also Anreizinstrumente, etwas an der Wahrnehmung der Präsenz oder Nicht-Präsenz von Frauen verändert haben. Das finde ich wichtig. Universitäten und auch andere Institutionen sollten es durchaus belohnen, wenn Frauen eingestellt werden oder wenn es eine höhere Zahl von Frauen unter den Beschäftigten in den höheren Positionen gibt.


K: Was raten Sie Frauen, die im Wissenschaftsbereich Karriere machen wollen?


WS: An dem festzuhalten, was man machen will und sich auch trauen zu sagen, was man machen will. Wenn man ein bestimmtes Thema verfolgen will oder ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, sollte man sich davon nicht so einfach abbringen lassen. Ich glaube, dass Strategie das eine ist, aber Leidenschaft für eine Sache ist noch viel wichtiger. Sicherlich ist es auch förderlich, wenn man Mentoren oder Mentorinnen hat, die einen unterstützen. Ich will gar nicht sagen, dass das institutionalisierte Programme sein müssen. Das kann man auch machen – ich habe selber auch schon eine Mentee gehabt und fand das eine sehr positive Beziehung und Erfahrung –, aber es kann auch informell passieren und ist dann vielleicht noch viel effektiver. Man sollte auch nicht ignorieren, wie die Anforderungen in den jeweiligen Bereichen sind. Man muss darauf achten, was derzeit die Kriterien für Anerkennung sind, wenn man sich irgendwo bewirbt, darauf achten, was gefordert ist, sonst ist man schnell abgehängt. Das andere Wichtige ist, dass man sich einen Partner oder eine Partnerin suchen muss, die die eigenen Wünsche und Karriereambitionen mittragen. Man sollte an der Stelle nicht zurückstecken. In einer Frauen-Männer-Partnerschaft sind die Männer oft ein bisschen älter und sind dann im Beruf oft schon weiter. Bei Familiengründungen starten die Männer durch, übernehmen die Rolle des Familienernährers und die Frauen bleiben zurück. Das ist ein kritischer Punkt, den ich nun selbst nicht erlebt habe, aber an dem man sehr aufpassen sollte. Man braucht jemanden, der das eigene Anliegen mitträgt und unterstützt.


K: Herzlichen Dank.