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»Frauen können auch besser sein als Männer.«

Interview mit Frau Prof.in Dr.in Evamarie Hey-Hawkins, Professorin für Anorganische Chemie an der Universität Leipzig

Frau Kremer: Wie haben Sie Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit persönlich erlebt?

Frau Hey-Hawkins: Ich habe erfreulicherweise Bildungsgerechtigkeit erlebt. Ich bin in einem kleinen Dorf mit 2.000 Einwohnern aufgewachsen, mit einer alleinerziehenden Mutter und einem älteren Bruder, und ich bin eigentlich von Kindheit an gefördert worden. Erst durch meine Mutter, dann durch meine Lehrer, dann durch meine akademischen Lehrer, sodass ich eigentlich nicht von Ungerechtigkeit reden kann. Ich bin im westlichen Teil Deutschlands aufgewachsen, in Hessen. In der Schule haben mich Lehrer gefördert, an der Universität hat mich insbesondere mein Doktorvater gefördert, ein Sachse, der hier an der Universität Leipzig studiert hatte. Er war es auch, der mich zur Habilitation angeregt hat. Ich selber hatte nie mit dem Gedanken gespielt. Ich wusste nur, dass ich eigentlich nicht in die chemische Industrie gehen wollte. So war das Gespräch, in dem er mir andere Optionen, gerade im akademischen Bereich, aufgezeigt hat, für mich wegweisend.

K: Insofern hat das zum Erlangen Ihrer jetzigen Position beigetragen?

HH: Unbedingt. Ich denke, was wirklich wichtig ist, ist, dass man jungen Leuten Möglichkeiten, die sie haben, auch frühzeitig aufzeigt, wenn man Potenzial erkennt. Wie das bei mir der Fall war. Ich war noch recht jung, erst 24 Jahre, und das Gespräch mit meinem Doktorvater hat mich in diese Richtung gelenkt. Ohne dieses Gespräch hätte ich selbst über eine akademische Laufbahn niemals in der Form nachgedacht, weil ich auch gar nicht gewusst hätte, wie man das angehen würde, also wie man seine Karriere entsprechend plant. Das ist heute natürlich anders. Durch die Mentoren- und Mentorinnenprogramme werden heute im Bereich Promotion gerade auch Frauen eher motiviert, eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

K: Hätte das Thema Bildungsgerechtigkeit auf eine mögliche Karriere im außeruniversitären Bereich Einfluss gehabt?

HH: Ja. Ich bin nun schon etwas älter und seit 1993 an der Universität Leipzig. Ich habe 1976 in Marburg mit dem Studium begonnen, also zu einer ganz anderen Zeit, das muss man sich immer vor Augen halten. Damals waren Frauen in der Chemie eher selten und Frauen in der chemischen Industrie in Führungspositionen gab es eigentlich nicht. Wir haben im Rahmen des Studiums Exkursionen zu einigen größeren Firmen gemacht und da wurde natürlich um Nachwuchs geworben. Aber es war ganz klar, dass man eigentlich um männlichen Nachwuchs geworben hat, nicht um weiblichen. So wurden alle Präsentationen von Männern gehalten und es wurde auch nie direkt eine Frau angesprochen. „Es war offensichtlich, dass das Bewusstsein nicht sehr ausgeprägt war, dass Frauen auch sehr gut sind oder dass Frauen gerade für die chemische Industrie oder für andere Bereiche außerhalb der Universität oder überhaupt für jeden Bereich sehr gut geeignet sein könnten, genauso gut wie ein Mann. Das hat sich eigentlich erst stärker in den letzten zwanzig Jahren gezeigt, auch durch die Politik mitbewirkt. Das war einer der Gründe, warum ich dann letztendlich die akademische Laufbahn eingeschlagen habe. Ich habe gesehen, dass es für Frauen in anderen Bereichen eher schwieriger werden würde, sich so zu entfalten oder selbst zu verwirklichen, wie ich das für eine universitäre Laufbahn gesehen habe. Also insofern hat mich diese Erfahrung, diese damalige Exkursion in die chemische Industrie, durchaus in dem Wunsch bestärkt, eine akademische Laufbahn einzuschlagen.

K: Haben Sie Arbeitserfahrungen im außeruniversitären Bereich?

HH: Gar nicht. Ich habe niemals in irgendeiner Form ein Praktikum in einer Firma gemacht; ich habe nur, wie gesagt, an Exkursionen teilgenommen. Aber ich kooperiere natürlich jetzt in meiner beruflichen Tätigkeit mit Firmen. Das sind häufig auch die zukünftigen Arbeitgeber meiner Absolventen. Ich kann in meinem Beruf als Hochschullehrerin das machen, was ich gerne mache, forschen und lehren, und kann zusätzlich über Kooperationen mit industriellen Partnern die Dinge, die ich für die Allgemeinheit für wichtig halte, weitertragen. Ich finde das gut und spannend. Dabei muss ich mich aber nicht den Zwängen unterwerfen, die in der Industrie einem Arbeitnehmer durchaus auferlegt werden können, zum Beispiel in kürzester Zeit Ergebnisse zu erzielen, die dann auch vermarktet werden können, sondern ich kann, wenn sich Kooperationen anbieten, diese für meine Ziele nutzen. Das ist eigentlich das Beste aus beiden Welten.

K: Lassen sich persönliche Präferenzen bezüglich Beruf und Familie an der Uni leichter verknüpfen? Können Frauen sich hier besser behaupten als zum Beispiel in der Wirtschaft?

HH: Das kann ich nicht gut beantworten. Ich selbst habe keine Kinder, ich wollte auch nie Kinder. Ich finde, die persönliche Freiheit, die mir mein kinderloses Leben mit meinem Mann bietet, für das, was ich machen will und was ich gerne mache, optimal. Ich habe natürlich Mitarbeiterinnen, die Kinder haben, und sehe die Probleme, die auch an der Universität damit verbunden sind. Wenn eine Frau schwanger wird, sollte sie nicht mehr im Labor mit Chemikalien arbeiten. Das heißt, für eine Chemikerin ist das ein ganz wichtiger Einschnitt in die Karriere. Es gibt heute Möglichkeiten, in dieser Zeit die Laborarbeit durch eine Hilfskraft, eine Laborantin oder einen Laboranten unter Anleitung der schwangeren Frau weitermachen zu lassen, aber das ist natürlich nicht das Gleiche. Jemand, der selbst im Labor am eigenen Thema arbeitet, macht Dinge erfahrungsgemäß ganz anders als jemand, der Anweisungen dazu bekommt. Insofern ist es egal, ob nun Universität oder Wirtschaft. An der Universität ist es in meinem Bereich vielleicht sogar schwieriger,

Evamarie Hey-Hawkins in ihrem Institut für Anorganische Chemie

weil chemische Arbeiten im Labor nicht mehr möglich sind. Es gibt aber auch hier eine ganze Reihe von Alternativen: so kann man zusätzlich zu den experimentellen Arbeiten theoretische Arbeiten durchführen, Publikationen oder Übersichtsartikel schreiben. Aber wenn das Kind dann einmal da ist, ist es meistens auch nicht ganz einfach. Andererseits hatten wir an unserem Institut eine Habilitandin mit Kind, die trotz schwieriger Bedingungen ihre Habilitation wunderbar gemeistert hat. Erfreulich ist, dass die Universität Leipzig auch diverse Möglichkeiten zur Kinderbetreuung anbietet. Es geht vieles, aber von Arbeitgeberseite her muss man toleranter sein, man muss Optionen für Eltern mit Kindern an der Universität bieten, und das wird von der Universität Leipzig auch mehr und mehr gemacht.

K: Was halten Sie aufgrund Ihrer privaten und beruflichen Erfahrung vom staatlich geförderten Aufstieg von Frauen?

HH: Das ist schwierig. Ich bin in vielen Kommissionen, in denen es darum geht, aus einem Kreis von BewerberInnen die Besten herauszusuchen. Und für mich ist das eigentlich immer das wichtigste Kriterium: Die Besten. Für mich ist es egal, ob das ein Mann ist oder eine Frau. Wenn aber zwei ansonsten gleichwertige Personen in die engere Auswahl kommen, würde ich mich immer für die Frau aussprechen. Insofern ist vielleicht ein Umdenken durch diese Diskussionen erreicht worden: „Leute, beachtet Frauen doch mehr. Ist die Bewerberin nicht vielleicht doch genauso gut geeignet wie der Mann?“ Quoten können vielleicht helfen, dieses Bewusstsein zu stärken: Frauen sind genauso gut wie Männer, Frauen können auch besser sein als Männer.

K: Was würden Sie Frauen raten, die im Hochschul- oder Wissenschaftsbereich Karriere machen wollen?

HH: Vernetzen. Wir Frauen sind meistens nicht in dem Maße beruflich und wissenschaftlich so gut vernetzt wie Männer. Männer scheinen in ihrer Karriere sehr viel eher in Netzwerke eingebunden zu werden als Frauen. Netzwerke sind aber ungemein wichtig, um schnell handeln zu können. Durch meine Kontakte kann ich zum Beispiel schnell reagieren, wenn für einen Antrag Kooperationen notwendig sind. Netzwerkbildung ist, denke ich, sowohl im Hochschulbereich als auch im Wissenschaftsbereich wichtig. Die Universität Leipzig hat das erkannt, wie andere Universitäten auch. Das zweite ist, seine beruflichen Ziele zu planen. Es ist für einen jungen Mensch wichtig zu überlegen, was man in den nächsten Jahren machen sollte, um seine Ziele zu erreichen. Rückblickend könnte ich heute wahrscheinlich jungen Menschen besser raten, was man machen sollte, um möglichst gut für das spätere Berufsleben vorbereitet zu sein. Optimale Bedingungen haben natürlich ausgezeichnete Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die auch Engagement im universitären und außer universitären Bereich neben der Wissenschaft zeigen. Zur Karriereplanung sind aber auch internationale Erfahrung und Mehrsprachigkeit wichtig. In der chemischen Forschung ist es zudem wichtig, dass man am Anfang fokussierter arbeitet, sich dann wissenschaftlich breiter aufstellt. Dann gibt es natürlich diverse Preise und Auszeichnungen, die für das angestrebte berufliche Ziel hilfreich sein können. Natürlich unterstütze und fördere ich alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in meinem Arbeitskreis. Außergewöhnlich begabte Nachwuchswissenschaftler und Nachwuchswissenschaftlerinnen nominiere ich gerne für Stipendien der Studienstiftung oder des Verbands der chemischen Industrie oder auch für wissenschaftliche Preise, weil diese Auszeichnungen neben Publikationen in sehr guten Zeitschriften, die dann auch Beachtung finden, für ihren weiteren Werdegang sehr hilfreich sein können. Zwar würde es mich entsetzen, wenn ein junger Mensch glaubt, seine Karriere bis ins letzte Detail planen zu müssen und können, nach dem Motto „Mit 32 kriege ich dann das erste Kind, mit 35 das zweite, und
mit 37 habe ich dann meine erste W2- und mit 40 meine erste W3-Professur.“ Andererseits denke ich, dass es hilfreich ist zu wissen, was man will. Will man eine akademische Laufbahn einschlagen? Will man in die chemische Industrie gehen? Will man sich im politischen Bereich engagieren? Das sind wichtige Fragen, die man möglichst früh für sich selbst beantworten sollte; ansonsten muss man eben mehrgleisig fahren. Wenn man seine beruflichen Ziele für sich selbst entschieden hat, dann gibt es viele Möglichkeiten, wie Praktika und Auslandsaufenthalte, um diesen Zielen etwas näher zu kommen. Bei aller Planung sollte man aber immer darauf achten, dass man sich seine wichtigen persönlichen Freiräume erhält.

K: Vielen Dank.