Interview mit Frau Priv.-Doz.in Dr.in med. habil. Daisy Rotzoll, MME, Ärztliche Leiterin der LernKlinik Leipzig
Frau Kremer: Wie haben Sie persönlich Bildungsgerechtigkeit oder -ungerechtigkeit erlebt?
Frau Rotzoll: Letztlich habe ich dieses „un“ in dem Wort Bildungsungerechtigkeit persönlich nie hautnah erlebt. In meiner Karriere bzw. während meines Studiums hatte ich nie den Eindruck, dass es aufgrund meines Geschlechts eine Problematik gäbe. Ich wollte an dieser Stelle ein Erlebnis erzählen, das mir aus meinem Medizinstudium deutlich in Erinnerung geblieben ist. Wir hatten einen sehr bekannten Physiologie-Professor, der in einer seiner Vorlesungen meinte: „Es ist ja schön, dass hier so viele Frauen sitzen, dann sind sie auf jeden Fall gut gerüstet, wenn Sie dann mal Familie haben und ihre Kinder versorgen müssen.“ Sie können sich vorstellen, dass das für eine Zwanzigjährige zuerst einmal ein Schock war, weil ich das in dieser Art noch nie betrachtet hatte. Für mich war es auch ein Ansporn. Ich habe ein Doppelstudium gemacht, Medizin und Japanologie. Auch da habe ich die Erfahrung gemacht, dass mich viele in der Verwaltung der Universität fragten, warum und wieso, weil das eben nicht üblich war. Da habe ich auch einmal den Satz gehört: „Sie sind doch eine Frau, wollen Sie sich das wirklich zumuten?“ Das hat mich geärgert, aber andererseits muss ich im Nachhinein ein bisschen darüber schmunzeln. Es gibt eben unterschiedliche Meinungen. Das hat mich aber in meinem Werdegang nicht besonders beeinträchtigt. Von daher würde ich ganz klar sagen, dass ich Ungerechtigkeit in dem Sinne nicht erlebt habe.
K: Und wie haben diese guten Erfahrungen zum Erlangen Ihrer jetzigen Position beigetragen?
R: Da ich jetzt auch Familie habe und einen Mann, der ganz viel mitmacht, würde ich sagen, dass es für Frauen wichtig ist, eine gewisse Flexibilität mitzubringen. Ich bin 49 und andere in meinem Alter haben schon längst Professuren, sind etabliert, haben die Karriere gradlinig fortgeführt. Ich denke, das Besondere an meinem Werdegang ist, dass er nicht geradlinig war und dass ich auch für mich selbst Wert darauf gelegt habe, flexibel zu bleiben und sich mir bietende Gelegenheiten beim Schopf zu ergreifen. Das ist auch etwas, was in meinem jetzigen Betätigungsfeld als ärztliche Leiterin der LernKlinik Leipzig ganz entscheidend ist – ohne Flexibilität ist diese Aufgabe nicht zu machen. Es ergab sich gerade zu dem Zeitpunkt, als ich hier an der Universität war, dass eine Leitung gesucht wurde und da ich darin eine Herausforderung gesehen habe, habe ich mich beworben. Das ist kein eingetretener Pfad oder etwas, was schon viele vor mir genauso gemacht haben. Ich konnte hier meine beruflichen und persönlichen Erfahrungen und Vorkenntnisse gut einbringen.
K: Hätte Bildungsgerechtigkeit auf eine mögliche Karriere außerhalb der Universität Einfluss gehabt?
R: Ich bin ja Medizinerin, ich bin ausgebildete Pädiaterin, also Kinderärztin, mit dem Schwerpunkt Neonatologie. Als ich angefangen habe zu studieren, gab es viele, die sagten: „Um Gottes Willen, Medizin! Wir haben viel zu viele Mediziner, wir brauchen keine mehr. Mach doch was anderes.“ Ich wollte aber gerne in die Medizin und als ich fertig war, hatte sich das Pendel schon in die andere Richtung bewegt. Es gab einen Mangel an Medizinern, vor allem einen Mangel an hochqualifizierten Ärzten mit Schwerpunktbezeichnungen. So hat sich eigentlich nie die Frage gestellt, ob ich einen Job finde, sondern eher, welchen Job ich mache und welche Möglichkeiten ich bei diesem Job für mich offen halten möchte. Ich habe in Heidelberg studiert und dann lange in Leipzig gelebt. Ich denke, die Arbeitgeber hatten gar nicht die Wahl zu sagen, ob sie einen Mann oder eine Frau wollen. Hauptsache, sie hatten eine qualifizierte Person. Ich würde deshalb sagen, dass gender-bedingte Bildungsungerechtigkeit auf meine Karriere keinen Einfluss gehabt hat.
K: Und warum haben Sie sich dann für eine Unilaufbahn entschieden?
R: Ganz klar wegen der wissenschaftlichen Orientierung an der Universität. Ich habe auch Teilzeit gearbeitet, als meine Kinder klein waren. Ich war kein Anhänger davon, meine Kinder mit drei Monaten in die Krippe zu geben. Das war eine persönliche Entscheidung. Abwechselnd mit meinem Mann habe ich Erziehungsurlaub genommen und mir für meine Kinder Zeit gelassen und wollte dann auch nicht mit einer vollen Stelle wieder einsteigen. Ich habe also eine Tätigkeit aufgenommen, die durchaus auch eine Bereicherung für mich war: Ich habe in einem peripheren Krankenhaus die Neonatologie betreut, also die „normalen“ Geburten. Da hat es mich aber immer wieder interessiert, wie bestimmte Dinge abliefen. Hier ein konkretes Beispiel: Kaiserschnitt-Entbindungen haben enorm zugenommen, sicherlich auch dank Claudia Schiffer. Ich wollte also eine Untersuchung machen, wie sich die Rate an Kaiserschnittentbindungen an diesem Krankenhaus im Laufe der Jahre verändert hat. Wie viele Kaiserschnitt-Entbindungen wurden tatsächlich durchgeführt und mit welcher Indikation? Da habe ich aber von dem dortigen Leiter der geburtshilflichen Abteilung ganz klar gesagt bekommen, dass ihn das nicht interessieren würde und er kein Interesse daran hätte, eine solche Fragestellung als Grundlage für eine wissenschaftliche Arbeit aufzuarbeiten.
K: Zumindest keinen finanziellen Vorteil.
R: Ja, zum einen keinen finanziellen Vorteil und zum andere sei das verlorene Arbeitszeit. Jedenfalls habe ich dann gemerkt, dass das nichts für mich ist. Ich will wissen, warum, ich möchte dem „Warum“ nachgehen. Ich möchte Fragestellungen, die ich selbst entwickelt habe, verfolgen können. Und das kann man nach wie vor in unserem Land sehr gut an der Universität – oder auch an Institutionen wie Leibniz- oder Max-Planck-Instituten, Helmholtz Forschungseinrichtungen – und deswegen war es für mich ganz klar, dass ich im universitären Bereich arbeiten möchte.
K: Lassen sich persönliche Präferenzen bezüglich Beruf und Familie an der Uni leichter verknüpfen? Können sich Frauen hier besser behaupten als zum Beispiel in der Wirtschaft oder im Krankenhaus?
R: In der Wirtschaft habe ich keine Erfahrungen. Aber ja, persönliche Präferenzen lassen sich für mich leichter an der Universität verknüpfen, weil meine persönliche Präferenz die wissenschaftliche Orientierung im Beruf ist. Das mag in einem wirtschaftlichen Umfeld auch gehen, wenn sich die Interessen decken. Aber man muss sagen, dass an der Universität auch unangenehme wissenschaftliche Fragen bearbeitet werden können, die zwar gesellschaftlich enorm wichtig sein können, aber letztlich nicht primär kapitalorientiert sind. Das vermischt sich auch zunehmend, siehe Finanzierung von Wissenschaft durch Industrie. Es lässt sich zukünftig sicherlich immer schwieriger trennen und da sind Juristen in der Verwaltung gefragt, hier klare Regelungen zu schaffen. Dennoch denke ich, die Freiheit an der Universität ist etwas, das wir uns unbedingt erhalten sollten. Sie ist für unsere Gesellschaft und auch für unser Land enorm wichtig.
K: Wie würden Sie denn die Vereinbarung von Beruf und Familie an der Uni einschätzen? Ist sie dort leichter als im Krankenhaus?
R: Das kommt ganz darauf an, wie flexibel diejenige Person ist. Wir haben auch Frauen mit W3-Professuren in der Medizin, zum Beispiel Professorin Gockel, die Professorin und geschäftsführende Direktorin der Klinik für Viszeral-, Transplantations-, Thorax- und Gefäßchirurgie ist. Sie ist jemand, die eine sehr männerdominierte Sphäre leitet. Mein Bereich, Ausbildungsforschung und Medizindidaktik, ist noch nicht so fest in der Männerdomäne verankert, das sag ich jetzt provokant. Sicherlich, weil sie auch bisher nicht mit Steilkarrieren verbunden und damit durchaus ein Feld ist, in dem man sich wirklich mit seinen individuellen Kompetenzen und Fähigkeiten gut einbringen kann, ganz egal, ob Mann oder Frau. Meine persönliche Präferenz kann ich also auch mit Familie sehr gut im universitären Umfeld verwirklichen.
K: Wie beurteilen Sie die Förderung von
Frauen an der Uni Leipzig? R: Ich denke, dass vor allem die Förderung von jungen Frauen sehr vorangetrieben wird und da viele Möglichkeiten für diejenigen, die es nutzen möchten, bestehen. Nichtsdestotrotz frage ich mich in Bezugauf das Kriterium Flexibilität und Ziele, ob man es unbedingt braucht. Aber ich verstehe durchaus, dass junge Frauen, die da mit anderen Erfahrungen rangehen, davon profitieren können, dass solche Angebote gemacht werden. Ob diese Angebote wirklich für den akademischen Mittelbau relevant sind, das möchte ich nicht beurteilen. Ich selbst habe sie nicht genutzt und hatte auch nicht das Bedürfnis, sie zu nutzen.Trotzdem ist es eine wunderbare Anstrengung der Universität, diese Möglichkeiten zu bieten.
K: Was halten Sie aufgrund Ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrung vom staatlich geförderten Aufstieg von Frauen?
R: Wir sind noch nicht weit genug für Quoten. Ich glaube, sie sind eher hinderlich. Den Begriff „Quotenfrau“ finde ich zum einen grässlich, zum anderen impliziert es immer: Nur weil du eine Frau bist, hast du diesen Job. Und das kann nicht gut sein. Auch diesen Satz bei Einstellungen, „Schwerbehinderte und Frauen werden bei gleicher Qualifizierung bevorzugt eingestellt“, sehe ich als nicht förderlich für Frauen, die eine Karriere anstreben. Ich finde, dass es eine persönliche Entscheidung ist und genauso finde ich es auch eine persönliche Entscheidung von Männern, ob sie nun zum Beispiel Erziehungsurlaub nehmen oder nicht. Ich kann aus der Kinderklinik berichten, dass immer mehr Männer den Erziehungsurlaub nutzen und nicht nur junge Assistenzärzte, sondern auch Oberärzte in verantwortungsvollen Positionen. Das bedeutet durchaus eine große organisatorische Herausforderung für die Leitung, aber ich denke, diese Herausforderung muss sein und ist auch lösbar. Nur ist sie eben bei uns noch nicht gesellschaftlich durchweg akzeptiert. Ein schönes Beispiel ist der Begriff „Rabenmutter“. Den gibt es im Französischen nicht, in der deutschen Sprache schon. Eigentlich müsste ich mich als Rabenmutter bezeichnen. (lacht)
K: Und was würden Sie Frauen raten, die im Hochschul- oder Wissenschaftsbereich Karriere machen wollen? R: Ich würde ihnen vier Dinge mit auf den Weg geben wollen: Zum einen sollten sie ein hohes Maß an Flexibilität mitbringen. Zum anderen sollten sie sich klare Ziele setzen: Was will ich? Was kann ich? Sie sollten ein großes Maß an Neugier mitbringen. Und nicht nur Neugier im Beruf, sondern auch Neugier, wie andere das machen und was für Möglichkeiten es da draußen noch gibt. Und sie sollten netzwerken, vor allem auch international. Wenn man diese vier Kriterien und den eigenen Lebenslauf durchdenkt, kommt jede Frau weiter, beruflich und persönlich.
K: Herzlichen Dank!